Lebenswege: Ein Dilsberger Urgestein, geboren in Mähren…

Der Lebensweg eines nach Dilsberg zugezogenen Vertriebenen

verfasst von Walter Berroth

Vorbemerkung:

Von denjenigen Dilsberger Bürgerinnen und Bürger, die vor mehr als siebzig Jahren als Vertriebene oder Flüchtlinge nach Dilsberg kamen, leben nur noch wenige. Daher ist es wichtig, die Lebenswege derjenigen, die noch unter uns weilen, auch für die Nachwelt festzuhalten. Dies soll mit diesem exemplarischen Beitrag geschehen.

I

Die alte Heimat

Es ging wieder aufwärts in der Stadt Fulnek im Osten Mährens, als Kurt im Sommer 1935 auf die Welt kam. Zu seiner Familie gehörten zu diesem Zeitpunkt der neunundzwanzigjährige Vater, die siebenundzwanzigjährige Mutter und der zweijährige Bruder. Der Vater war als gelernter Klempner in einer kleinen Spenglerei tätig, die Mutter hatte bis zur Geburt des älteren Bruders in einer Tuchfabrik gearbeitet.

Das Städtchen lag an der Grenze zu Schlesien, gekrönt mit einem großen Schloss, dessen adelige Herren häufig gewechselt haben. Wie alle mährischen Städte hat auch dieses Städtchen Fulnek eine sehr wechselvolle Geschichte: Jahrhunderte lang war es Teil des Königreiches Böhmen, im 19.Jahhundert gehörte es zur österreich-ungarischen Monarchie. Nach dem ersten Weltkrieg wurde es Teil der neu gegründeten Tschechoslowakei. Es lebten dort sowohl deutschsprachige als auch tschechisch sprechende Bürger in zumeist friedlicher Eintracht miteinander.

Als dann die Tschechoslowakei am 16.März 1939 als „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ ins Deutsche Reich einverleibt wurde, galt tschechisch nicht mehr als Amtssprache und die tschechisch sprechenden Kinder mussten nun die deutsche Schule besuchen.

Unser Kurt wurde also in der Zeit geboren, als diese Stadt noch zur Tschechoslowakei gehörte. Da war es auch selbstverständlich, dass in der unteren Wohnung des Zweifamilienhauses, in dem sie zur Miete wohnten, eine tschechische Familie ihre Bleibe gefunden hatte.

Kurt wuchs mit Mutter, Bruder und dem tagsüber berufstätigen Vater in bescheidenen Verhältnissen auf. Zur Wohnung gehörte ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Da die Mutter zuhause war, gingen die Kinder nicht in einen Kindergarten, sondern spielten und beschäftigten sich in der Wohnung oder vor dem Haus, wobei sie mit zunehmendem Alter immer mehr auch die ganze Stadt für sich entdeckten.

Die Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder waren durch die unmittelbare Umgebung reichlich gegeben:

Da war auf der Rückseite des Hauses das Feuerwehrhaus mit einem großen Platz, auf dem man Hüpfspiele oder auch Fußball spielen konnte, sofern eines der Kinder einen Ball mitgebracht hatte. Unweit davon war ein Bach, in dem Krebse zu finden waren und als besondere Belustigung setzten sich alle Kinder gerne in den Dampfabzug der nahe gelegenen Seidenfabrik, um sich von der warmen Abluft durchblasen zu lassen.

Bei den Großeltern, die nicht weit entfernt wohnten, fanden die beiden Jungen zur Abwechslung auch zeitweise Unterschlupf und immer etwas zu essen.

Die Kriegszeit in Mähren

Gleich zu Beginn des Krieges 1939 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen, sodass die Mutter allein für die Kinder sorgen musste. Der Vater kam nur ab und an zu einem Fronturlaub nach Hause.

1941 war dann ein besonders ereignisreiches Jahr: Kurt wurde eingeschult und die Schwester Traudel kam auf die Welt. Die deutsche Wehrmacht war noch an allen Fronten siegreich.

Als im Winter 1942/43 durch die Schlacht von Stalingrad die Wende des zweiten Weltkriegs begann, wurde auch die Verbindung zwischen den Soldaten und ihren Familien immer schlechter. Gegen Ende des Krieges hatte die Familie keine Nachricht mehr vom Vater erhalten. Man wusste nicht, wo er sich befindet oder ob er überhaupt noch lebt.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges erreichte die Stadt Fulnek erst Ende April/Anfang Mai 1945, als die Sowjetarmee gegen sie vorrückte. Da vermutlich von deutscher Seite noch Widerstand geleistet wurde, brachten die Russen ihre sog. Stalinorgeln in Stellung und bombardierten die bis dahin friedliche Stadt. Fast die Hälfte der Häuser waren danach zerstört oder schwer beschädigt. Das Haus, in dem Kurt mit Mutter und Geschwistern wohnte, blieb zum Glück unversehrt.

Die Folgen des Krieges

Der ganze öffentliche Bereich, einschließlich der Schulen kamen nun unter tschechoslowakische Verwaltung. Aus den bisher deutschen Schulen wurden tschechische Schulen, die nur noch von tschechisch sprechenden Schülern besucht wurden. Für deutschsprachige Schüler gab es keinen Unterricht mehr.

Die deutsche Bevölkerung verlor viele ihrer Rechte. Diebstähle oder Raubdelikte an Deutschen wurden nicht mehr verfolgt. Als Kurt und sein Bruder es wagten, nach frischem Schneefall mit ihrem Schlitten einen Hügel herunterzufahren, wurde Ihnen am Ziel der Schlitten abgenommen. Die tschechischen Kinder sahen sich im Recht, deutsches Eigentum zu beschlagnahmen.

Da es ja keinen Schulunterricht mehr gab, waren die Kinder gezwungen, ihre Zeit auf andere Weise zu vertreiben, was ihnen aber nicht so schwerfiel: Sie streunten durch die vielen Ruinengrundstücke, fanden dabei den einen oder anderen interessanten

Gegenstand oder auch gefährliche Munition. Zum Glück ist Kurt und seinem Bruder dabei aber nichts Ernsthaftes passiert.

Nach Kriegsende im Mai 1945 musste die Familie ein Jahr in ärmlichen Verhältnissen, ohne irgendeine Perspektive und vor allem ohne Nachricht vom Vater in ihrer Stadt zubringen. Zum Glück gab es genug zu essen.

Im Mai 1946 wurde die deutsche Bevölkerung in Fulnek dann von der tschechischen Verwaltung darüber informiert, dass sie ausgewiesen werden soll. Der offizielle Bescheid über die persönliche Ausweisung erreichte die Familie Heger einige Wochen später: Die Mutter wurde aufgefordert, sich mit ihrer Familie auf die in wenigen Tagen stattfindende Deportation nach Deutschland vorzubereiten.  Es konnte nur mitgenommen werden, was in zwei Koffer passte. Alle Möbel, das ganze Inventar, die schönsten Erinnerungsstücke, all das, was die Familie mühsam zusammengespart hatte, musste zurückgelassen werden.

Ausweisung und Lagerleben

An einem Morgen im Juni klingelte es wie angekündigt an der Haustür. Ein LKW stand vor dem Haus, auf dem bereits andere deutsche Bürgerinnen und Bürger mit ihren Kindern saßen. So wurden auch Kurt, seine Geschwister und die Mutter aufgeladen und in einen leerstehenden Eisenbahnschuppen am Stadtrand verbracht. Dort bekam Familie H ein paar Quadratmeter Bodenfläche zugwiesen, auf denen sie die nächsten zwei Tage zubringen musste. Aus einer Feldküche erhielten sie ein paar Stücke Brot und eine wässrige Suppe. Die Stimmung in der Halle muss bedrückend gewesen sein: Hier waren Familien zusammengepfercht, deren Väter gefallen oder in Gefangenschaft oder gar vermisst waren. Daneben saßen alte Leute, die – wie Generationen vor ihnen – Ihr ganzes Leben in Fulnek oder einem der umliegenden Dörfer zugebracht hatten und nun in eine ungewisse Zukunft an einen unbekannten Ort abgeschoben wurden.

Nach zwei Tagen wurden alle zu Vertreibenden in Güterwaggons verladen, die nicht genügend Platz boten, damit alle Insassen liegen konnten. Man musste also in Etappen schlafen. Zu essen gab es, aber es gab keine gesonderte Möglichkeit, seine Notdurft zu verrichten.

Zum Glück war es Sommer, sodass nur die nächtliche Kälte auszuhalten war. Die Tatsache, dass im Waggon, in dem die Familie Heger untergebracht war, auch noch die Schwestern der Mutter und eine Schwester des Vaters mit ihren insgesamt drei Kindern mitfuhren, erleichterte die Situation.

Nach zwei Tagen Fahrt, bei denen der Zug oft stundenlang irgendwo stehen geblieben ist, hielt er in Hockenheim, einer für die Vertriebenen vollkommen unbekannten Gegend. Dort wurden den Familien wieder Plätze, diesmal in einer ehemaligen Fabrikhalle zugewiesen.

Hier lagerten sie in ähnlichen Verhältnissen wie in der Halle in Fulnek, nur dass die Verpflegungssituation noch schlechter war als dort. Alle Familien erhielten eine Zusage, dass ihnen eine Wohnung bzw. ein Zimmer in irgendeinem Ort der weiteren

Umgebung zugewiesen würde. Dabei war den Betroffenen schon ziemlich klar, dass sie vermutlich dort zwangseingewiesen werden sollten, womit sie nicht auf freundlichen Empfang durch die jeweiligen Hausbesitzer hoffen konnten.

Fortsetzung folgt…